20160508

Fall 1 - L

Der stürmische Wind hat einen Affenzahn drauf, während er und der Regen um die Wette eifern, wer mir zuerst die Haut abziehen kann. Das Wetter ist so schlimm, wie schon lange nicht mehr, und man könnte fast meinen, Sturmflut-Verhältnisse voraus zu sehen. Die Sichtweite ist nicht einmal weit genug, um vom Pier aus den Rand der Green Bay zu erblicken, geschweige denn den Rest der Umgebung.

Mit einem kurzen Sprint erreiche ich, immer wieder leicht vom Kurs abgebracht, endlich die Straße. Ein schneller Blick zu meiner Linken und Rechten, aber in beide Richtungen nichts los. Kein Wunder, an diesem Pier.

Bleibt mir nichts anderes übrig, werde ich weiter durch den Regen eilen müssen. Der hingegen macht kein Anzeichen, irgendwann schwächer zu werden. Ganz im Gegenteil, mit ein paar kräftigen Blitzen zuckt es noch ein paar Mal ordentlich. Einer davon schlägt mit einem lauten Krachen irgendwo in den Docks ein.

Durch Pfützen und Lachen, immer wieder am Straßenrand am Navigieren, komme ich zu einer Zweigstraße. Hier muss doch irgendwo...da vorne! Eine Bushaltestelle. Ein Trauerspiel ohne Gleichen, aber was soll ich machen.

Als ich endlich den Unterstand erreicht habe, ist der Schritt ins Trockene ein ungewohnter, aber angenehmer Segen. Zudem bin ich, angesichts der aktuellen Umstände wenig verwunderlich, der einzige, der jetzt hier steht und wartet. Ein kurzer Blick auf den Fahrplan.

Hmm. Welcher Tag ist heute? Wie spät ist es? Das...ist jetzt scheiße. Ich kann nicht mal sagen, ob, und wann ein Bus fährt. Super. 

Zeichner - Wenigstens im Trockenen.

Im nächsten Moment rauscht ein LKW vorbei. Fährt direkt durch eine größere Pfütze. Der Schwall Wasser, entfesselt, zieht sich direkt gegen meinen Oberkörper. Ich reiße noch die Arme hoch, versuche mich wegzudrehen, aber es ist zu spät. Was vorher noch ansatzweise trocken war, ist nun gänzlich unter Wasser gesetzt.

Zeichner - Ich und meine große Fresse.

Bringt doch alles nichts. Setze mich für den Moment auf die Bank. Lehne den Kopf zurück. Und warte. Vor meinen Augen könnte jetzt die Welt untergehen, es wäre mir egal.

Zeit vergeht. Zeit, in der ich mir Gedanken mache.

Selbst wenn, ich kann Rieé eh nicht erreichen. Erst mal ein neues Mobiltelefon besorgen. Spuren? Ich weiß, dass Mokhovs Wohnung von einer Frau in einem Schuppenkleid leer geräumt wurde, bevor Rassila dort war. Dass Smetnik selbst, genauso wie Mikhail Rassila und seine Frau hinter "Tatianna" her sind. Ebenso wie eine Gruppe von White-Power-Faschisten. Und das Matthews als Versorger von "leichten Mädchen" im Hintergrund mit Spritzer da drin hing, vermutlich Fouquier versorgte, oder von diesen seine Mädchen bekam.

Ein Schauer geht mir über den Rücken, beim Gedanken daran, wie lange dieses Monstrum schon aktiv gewesen sein muss. Es muss doch so ein natürlicher Ekel sein, der sich da zeigt.

Und Fouquier wiederum hat für jemanden namens Kaltenstadt gearbeitet. Ein Deutscher? Wäre wenig überraschend, wenn ich darüber nachdenke, dass ja auch der deutsche Attachée, Altenstamm involviert ist. Aber wie passt das mit Fouquiers Aufzeichnungen zusammen? Wie aus seinen Aufzeichnungen hervor ging, hat er die Mädchen über einen Menschenhändler-Ring bezogen und dann konditioniert. "Auf Kundenwunsch". Jemand wollte ein ganz bestimmtes Aussehen. Ein bestimmtes Verhalten.

Es erklärt aber auch die Verwicklungen. Selbst das bisher rausgefundene würde reichen, um ein paar dieser Personen arge Schwierigkeiten zu bereiten. Ein Skandal, der also tiefe Spuren hinterlassen kann. Das erklärt also, warum sie alle so verbissen hinter der Sache her sind.

Aber Rassila hat, zu mindestens so der Kenntnisstand, zuerst nach Tatianna suchen lassen. Mokhov ist vor den MiB abgehauen, welche ihn verfolgt haben, wurde aber später von Smetnik eingefangen. Für den er wohl auch gearbeitet hat. Und wenn man an das Bild in seiner Wohnung denkt, scheint zwischen Mokhov und "Tatianna" mehr gewesen zu sein. Aber war das Tatianna #2?

Und laut Fouquiers Bericht hat er vor einiger Zeit eine #3 ausgeliefert. Wie vom guten Onkel Doktor bestellt. #2 hat sich gegen die Konditionierung gewehrt und ist untergetaucht. Neues Aussehen und zuerst bei Smetnik und dann mit Mokhov? Oder sogar zuerst bei Rassila, dann Smetnik und zuletzt Mokhov? Aber wie gelangte sie dann zu Rassila?

Stimme - Hey. Mister. Wollen sie jetzt mit oder nicht?

Die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Gänzlich unbemerkt von mir hat sich ein kleiner Stadtbus herangeschlichen und steht momentan mit offener Fahrertür vor mir, während der Busfahrer, ein schrumpeliger kleiner Mann mittleren Alters, der mich ein bisschen an einen Basset.

Ich springe auf, etwas unbeholfen, zugegeben, und drücke die Jacke etwas dicht, damit ihm nicht gleich die Colt in der Jackeninnentasche ins Gesicht springt. Komme auf die vordere Bustür zu, die noch immer offen steht, während ein Schwall von Wasser sich langsam, wie ein kleiner Bach anfängt daran runter zu lassen, während der Regen mit unverminderter Stärke die Umgebung aufpeitscht.

Zeichner - Ja. Ja, Entschuldigung, komme.

Im Bus angekommen, guckt er mich mit großen Augen an, zeigt mit einer Hand auf seinen Fahrkarten-Apparat. Mist. Leicht grummelig zücke ich meine Brieftasche. Er lässt mich durch.

Der Bus ist beleuchtet, beheizt, fährt einmal durch die halbe Stadt und ist zu diesem Zeitpunkt mit 3 weiteren Personen besetzt, ein junges Paar, das, offensichtlich eher miteinander beschäftigt ist, während ein älterer Herr auf der Rückbank seinen Rausch ausschläft. Ich suche mir einen Platz an der Fensterscheibe, während ich vernehme, wie die vordere Bustür geschlossen wird, und der Bus Fahrt aufnimmt.

Ein Blick auf die Uhr schockiert etwas. Kurz nach 15h. Der Tag ist größtenteils verstrichen. Im Hintergrund dudelt seichte Musik auf einem lokalen Stadtsender, während Regentropfen gegen die Fensterscheibe prasseln.

Straßenzüge ziehen an uns vorbei, während wir schließlich die Hochstraße erreichen und das Stadtviertel wechseln. Die Straßen sind leer. An verschiedenen Stellen kann ich Sperrungen sehen, selbst auf den Straßen selbst ist kaum was los, was bei diesem Wetter aber auch nicht weiter verwunderlich ist.

Radio - ...love me tender....love me sweet....never let me go...

Der Regen wäscht wie eine Sintflut den Schmutz von allem, das er berührt. Er ist wie eine Hand, die reinen Tisch macht. Die einmal über die Oberfläche fährt, und alles davon fegt, das sich nicht dagegen halten kann. Und am Ende bleibt nur eine unberührte Oberfläche. Sauber. Rein. Leer.

Radio - ...wir unterbrechen das Programm für eine kurze Sondermeldung....

Ich hasse sowas. Es macht mich schläfrig, obwohl ich doch schon Stunden hinter mir haben muss. Das dumpfe Pochen meiner Schulter macht es nicht besser und die Mischung aus Wärme und seichtem Hintergrundgeräuschen drücken mich langsam ins Dösen. Nein! Muss Augen auf...aufhalten.

Radio - ...schwerste Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnung....

Wir halten an einer Ampel. Neben uns ein einsames Taxi von TTCT, auf dessen Dach eine Werbereklame prangt und für irgendwelche Lokalitäten Werbung macht. Eine Diskothek namens "El Pertubador" und einen Themen-Club. "Das Neptun". Schießen auch aus dem Boden wie Unkraut heutzutage, diese Dinger. Also die Disco. Das Neptun ist ein angesehenes Etablissement des Hafens, in dem die Bonzen ein und ausgehen. Auch wenn ich selber noch nicht dort war, weiß ich, dass eine Reservierung Monate im Voraus getroffen werden muss, um einen Tisch ergattern zu können.

Wir fahren eine ganze Weile, ehe wir die Kreuzung an der Ecke des Hudson Drive erreichen. Selbst in diesem Wetter sollte ich hier gut zu Fuß noch weiter kommen. Ich steige aus, und spüre schon beim Aussteigen, das die Entscheidung irgendwie unschön war, wie Wind und Wasser mir das Gesicht zerfurchen.

Ich springe zu meiner linken, erst einen, dann einen zweiten Block, über die Kreuzung des Hope Drive und dann in die hintere Gasse. In einiger Entfernung kann ich das stumpfe Leuchten erkennen. Die Lichter von "Hope´s End". Dem Kostümverleih.

Glück. Der Laden hat offen. Ein ironischer Name, angesichts der Tatsache, dass die Ansammlung an Kostümen hier drinnen gut und gerne ein Filmstudio versorgen könnte. Als ich die Tür gegen den Wind endlich hinter mir zu bekommen habe, bemerke ich erst, wie riesig die gesamte Auswahl ist. Unzählige Reihen über mehrere Stockwerke an verschiedenen Kostümen und Umkleidekabinen. Ein veritables Kaufhaus an Verkleidungen, möchte man meinen. Im Zentrum, eine Auswahl an günstigeren oder wohl mit "Makel" versehenen Artikeln zum Erwerb. Eine kleine Kasse mitsamt Hintertür am anderen Ende des Raumes, an dem eine Dame mit einer Brille sitzt, das ich das Gefühl habe, ich starre auf eine Eule.

Sie schaut mich ebenso an. In der Kombination von Kleidung ist das natürlich kein Wunder, während ich mich dem Tresen nähere.

Zeichner - Hallo.

Verkäuferin? - Guten Tag, Sir. Womit können wir Ihnen behilflich sein?

Zeichner - Ich benötige eine...Auskunft. 

Kann ich das so sagen? Haben sie überhaupt eine Verpflichtung, mir etwas zu sagen? Ich brauche etwas, das mir Zugang gibt...hmm. Sie guckt mich, etwas verwundert wohl, an, scheint sich aber nichts anmerken zu lassen.

Verkäuferin -  "Gerne". Hat es etwas mit uns zu tun oder benötigen sie eine Richtungsangabe?

Zeichner - Nun. Es geht um Schuppen.

Verkäuferin - Als Aufsatz oder für ein Kostüm? Fisch oder Schlange?

Zeichner - Okay, da bin ich nicht ganz sicher. Sehen sie, meine Bekannte hatte letztens eins an, das sah schon sehr...sagen wir mal ...."aus", an ihr. Ich würde mich dafür interessieren, ob sie wohl so eins hier haben.

Verkäuferin - Das ist sehr vage. Können sie es genauer beschreiben?

Zeichner - Nun, es ist wohl ein ...Fisch....Kostüm.....Kleid?

Jedes meiner Worte strapaziert ihre Nerven. Klar, wenn man nicht genau sagen kann, wie das gute Stück aussah.

Verkäuferin - Mit einem solchen können wir leider momentan nicht dienen, die sind alle verliehen. Können wir ihnen vielleicht etwas anderes anbieten?

Drucksen Zeichner! Drucksen!

Zeichner - Nun...ich würde es gerne...meiner Freundin zeigen und...habe kein Bild davon. Wissen sie...

Sie schaut mich an. Durch die riesige Brille wirkt es, als ob sie die Augen eines Uhus hätte, und der Blick in die gigantisch vergrößerten Pupillen hat etwas furchtsames, geradezu erschreckend Seltsames.

Verkäuferin - Nun, sie können unsere Kostüme ja auch sehen. Wir arbeiten mit einigen Etablissements der Umgebung zusammen. Vielleicht haben sie da die Chance, das Kostüm wieder zu finden? Wenn sie es genauer wüssten, könnten wir es ihnen eventuell fürs nächste Mal reservieren.

Zeichner - Ach, wirklich? Wo kann ich die denn begutachten?

Verkäuferin - Wir haben aktuell eine Themenkollektion an das Neptun ausgeliehen.

Zeichner – Ach so, na, dann sollte das doch kein Problem sein. Dankeschön.

Ich wende mich ab. Bleibe schlagartig stehen. So kann ich unmöglich zum Neptun latschen. Davon abgesehen, dass ich keinen Termin habe, würden sie mich so auch nicht rein lassen. Was für ein Anblick. Zwei unterschiedliche farbige Socken in einem paar roter Sneaker, einer grauen Jeans-Hose, Hawaii-Hemd und einer Halbleder-Jacke. Ich sehe aus, als wäre ich aus einer Altkleider-Tonne gekrabbelt.

Ich wende mich wieder zu ihr. Lege mein charmantestes Lächeln auf.

Zeichner - Sagen sie mal, haben sie zufällig etwas in der Richtung Spion und Abendgarderobe?

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