20200213

Abkehr

Ihr Gesicht war eine Maske des Zorns. Er konnte es in jeder Furche lesen, ihr Blick ein Blitzschlag des Zeus gleich, ihre Faust in diesem Moment ein Sendbote von vulkangleicher Macht. Das Knacken seines Kiefers unterstrich die Wucht, mit der sie ihn getroffen hatte.

Er schaukelte zurück, getroffen von ihrem Hieb, aber nicht zu Boden geschickt. Trotz dessen war keine Scham in seinem Gesicht ablesbar. Sie hingegen kochte regelrecht. Der tote Leib ihres Vaters kaum mehr als zwei Meter entfernt am Boden liegend, ihr Krug noch dort, wo sie ihn zuletzt hart auf den Tisch aufgeschlagen hatte.

Er guckte nicht ungläubig. Überrascht eher. Hatte er sich so in ihr getäuscht? Mit der anderen Hand schubste sie ihren Krug um. Das kleine kreidene X wurde deutlich. 

Ich hab die Krüge überprüft. Ich hoffe, ich werde
dein dreckiges Gesicht niemals wieder sehen, du elender Mistkerl!

Als sie sich umdreht und zum Leib ihres nun offensichtlich toten Vaters schreitet, schluckt er schwer. Die Blicke, die auf ihm lasten. Als wäre es ein unausgesprochenes Urteil schauen sie auf ihn herab, und einige zücken Messer und Dolch, Pistolen und Flinten. Schneller als es ihm lieb war, den schmerzenden, leicht vom Blutsfaden überzogenen Kiefer in der Hand, trat er den Rückzug an.

Seine Schritte waren nicht hastig, aber jedem Beobachter war klar, dass er an diesem Ort nicht verweilen konnte. Als er wenig später in seinem Stadthaus ankam, war die Nachricht bereits verteilt. Alte Damen und Schläger, die aufhorchten ob ihres Vaters Tod, Schuldner die sich Losung erhofften, Gendarmen die ein letztes Gläschen auf den alten Mann tranken.

Er zog sich zurück. Das kleine Atelier im Dach des Stadthauses bot einen ausgezeichneten Ausblick auf die Stadt, und auch auf die Prozession von Personen, welcher sich in den kommenden Tagen zusammenfand, um den alten Burschen zu beerdigen. Er war nicht eingeladen. Selbst die Gazetten sprachen in besserem Lichte vom letzten Ganoven seines Schlags, begraben in einem Sarg gefüllt mit Sonnenlicht, aufgebahrt neben seiner Frau. 

Er war sich sicher, das richtige getan zu haben. Das Glas mit dem schweren Brandy kam um diese Stunde einfacher in die Hand. Sein Butler hatte sich längst zurück gezogen, während er noch immer aus dem Fenster hinaus blickte. 

Als Sie gefragt hatte, warum er sich so für sie in die Waagschale warf, hatte er ehrlich geantwortet. Er sah in ihre eine Person, der er sich anvertrauen konnte. Die beiden hatten lange zusammen gearbeitet, und ihre Rückkehr belebte in ihm eine alte Lebensfreude, die er in den vergangenen Jahren vermisst geglaubt hatte. 

Als er sich auf den Deal einließ, die Krüge zu präparieren, war es ein leichtes, das Personal dafür zu bestechen, das Gift entsprechend zu platzieren. Er hasste Unwägbarkeiten. Ihre Reaktion traf ihn tiefer, als er erwartet hätte. Aber was hatte er erwartet? Er wusste, dass sie zum Kontinent zurückkehren würde. Ihr Besuch war von Anfang an zeitlich begrenzt gewesen.

War es das wert? 

Er konnte sie unten auf der Straße sehen. Sie blickte nicht hoch. Sie wusste, dass er sie von oben sehen konnte. Ihre Kontur im Gespräch mit den Gendarmen vor seinem Haus. Seitdem er das Gift für sie aus dem Safe gestohlen hatte, hatten sie ihn auf dem Kieker. 

Nach dem Gespräch machte sie ein paar Schritte auf der Straße voran, der Nebel der die Stadt immer wieder in den Bann zog, kam auf. In der Ferne das Schlagen der Uhren, und das Geräusch der Docks, nimmermüde, Fracht ein und umzuschlagen. Sein Herz sprang beinah in die Höh, er reckte sich nun gegen das Fenster, um den letzten Blick zu erhaschen.

Sie blieb stehen. Es war eine Ewigkeit. Ein kleiner Moment. Konnte er nicht sehen wie ihre linke Hand am Mantel tappte, ein kleines, ein geheimes Signal? Nein. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und verschwand im Nebel. Das Glas fiel aus seiner Hand, als er auf die Knie ging. Die Finger hinterließen schlierenhafte Spuren auf dem Fenster. Sein Butler konnte ihn oben hören, wusste aber, dass dies Dinge waren, von denen das Personal besser nichts mitbekommen sollte.

Einige Tage später erfuhr er, dass sie den Dampfer Richtung Kontinent genommen hatte. Er würde sie nicht wiedersehen. Nicht bis zum Rest seiner Tage. Später, nachdem die Sonne gefallen, und die Stadt ihn zurück gelassen hatte, nachdem die Welt sich durch den Norden bewegt und neue Horizonte erschlossen hatte, begann er seine Memoiren. 

Er begann mit den Worten:

Unter all den Lektionen, die mein Leben mich lehrte, steht dieses voran: Es steht uns nicht zu, unseren Geliebten die Chance zu nehmen, sie selbst zu sein, denn wir stecken nicht in ihrer Haut. Es doch zu tun erstickt sie. Was soll uns lieber sein? Der Leichnam, den wir um unserer selbst bewahren, oder der Vogel, der seinen Käfig nie wieder betreten wird?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen