Er hatte den kleinen Löffel gerade zum Mund führen wollen. Marius blinzelte. Hilfesuchend wollte die Hand den Lichtschalter finden. Tappste unbeholfen inmitten des finsteren Wohnzimmers umher. Unzählige Gedanken umkreisten die Situation. Hatte er die Vorhänge zugezogen? Waren die Rolläden heruntergelassen? Eventuell ein Stromausfall?
Durch die zwei breiten Fenstertüren der Fensterseite des Wohnzimmers zum Balkon war nur Schwärze erkennbar. Er räusperte sich. Schluckte mehrfach. Ein Gedanke kam auf. Müsste ich dann nicht Sterne sehen? Er ging gemessenen Schrittes zu den Fenstertüren. Schwarz. Vollkommen. Absolut. Es war so befremdlich. Unwillkürlich kam ihm ein Stress-Lachen herauf. Jetzt kamen ihm die Nachbarn in den Sinn. Müsste er nicht jemanden hören können? Kein Getrappel von Oben, wie er es sonst Abends gewohnt war. Keinen viel zu lauten Fernseher von unten, wie es die alte Dame immer gerne hatte.
Er setzte den Löffel ab. Drehte am Knauf der Fenstertür. Keine Bewegung. Er zog. Er zerrte. Aber egal wie viel Mühe er sich gab. es bewegte sich kein Stückchen. Es war wie verhext. Panik stieg in ihm auf. Nicht einmal die sonst so naheliegende Hochbahn die seine Wohnung sonst immer vibrieren ließ, war zu hören. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Jedes Pochen war spürbar. Schweiß. Er blickte sich wild um. In wenigen Schritten war er an der Wohnungstür.
Wollte sie aufreißen. Riß sie auf. Mit einem lauten Aufschlag knallte sie gegen die Seite der inneren Wand. Der Knall ließ Marius aufspringen, ein kleiner Schreckensruf. Es wirkte fast schon befreiend, so angespannt fühlte er sich. Gespannt wie ein Flitzebogen, wie sein Onkel Theo immer zu sagen pflegte. Im Hausflur brannte Licht. Natürlich. Die völlig übersensiblen Lichtsensoren schlugen ja auch bei einer Spinne an, also war ein Mensch allemal drin. Das war okay. Das war normal. Das war....gut. Vielleicht war es alles nur etwas seltsames, von dem er nichts gehört hatte? Er ging zur gegenüberliegenden Wohnungstür des nachbarschaftlichen Pärchens.
Klingelte. Der Ton schrill. Der Aufschrei von hinter der Tür ließ Marius zusammenzucken. Markerschütternd. Dann begann das Klopfen an der Tür. Kein einfaches händisches, sondern schlagend, pochend, wie mit bloßer Faust und flacher Hand. Wie ein Hilferuf. Und das Geräusch. Wie ein Knacken. Der Schrei, der sich in ein Wimmern veränderte. Marius wich zurück. Wie panisch drückte er sich gegen die nächstgelegene Wand. Dann erst wurde ihm bewusst, dass die Treppe fehle. Nur eine Wand grenzte zu seiner Seite. Jeder Seite, an der nicht die seine Wohnungstür war, oder die der Nachbarn.
War dies Wahnsinn? Ein Alptraum? Die Geräusche von der Nachbarswohnung hörten auf. Dann kam das Pochen. Poch Poch Poch. Stille. Poch Poch Poch. Stille. Poch Poch Poch. Immernoch an die Wand gedrückt rief Marius hinüber. Halloooo?
Es hörte so schnell auf, wie es begonnen hatte. Und das Ratschen eines Schlüssels war hörbar. Eines Schlüssels, der einer Säge gleich in ein Schlüsselloch gesteckt wurde. Panik packte Marius, und er wich zurück. Wenn dies ein Alptraum war, wollte er nicht wissen welche schreckliche Gestalt seine Alpträume hinter jener Tür verborgen hatten. Drückte sich von der Wand, rannte und keuchte zurück in seine Wohnung, in den Flur hinein, rammte die Tür zu, und verschloß sie sogleich mit dem Türschlüssel vom kleinen Schlüsselbrett daneben. Jeder Herzschlag war in seinen Ohren einem Hammerschlag gleich. Er drängte zum Türspion wie der Verdurstende zur Wasserquelle.
Er konnte den Flur durch die kleine Stelle sehen. Das Licht, flackernd. Und hören, wie die andere Tür aufgeschlossen wurde. Und sich begann zu öffnen. Plötzlich war es finster inmitten des Hausflurs. Und doch bebte der Boden unter seinen Füßen. Er konnte schwere Schritte hören. Aber nur Dunkelheit sehen. Die Hand suchte, so schnell es ging den Lichtschalter im Wohnungsflur, drückte der Reihe nach alle Tasten herunter, ehe die Dunkelheit ihn umfasste.
Du darfst keine Angst haben. Durchatmen. Die Angst ist der kleine Tod. Das ist alles in deiner Fantasie. In dieser Dunkelheit bist nur du und dein Herz. Tausend kleine Mantras gleichzeitig, die ihm durch den Kopf schossen. Alle gleichermaßen nutzlos. Er spürte die sich ankündigende Atemnot. Sank zu Boden, die Beine an sich gezogen, den Kopf hinter den Armen vergraben. Er hörte es. Das tiefe, kehlige Atmen hinter der Tür. Etwas zog. Etwas drückte. Die Tür, abgeschlossen. Eine Stimme, aus kaltem Eisen und rostigen Nägeln. Mmmmmmmm aaaaaaaa rrrrrrrr iiiiii uuuuuuuu sssssss. Tränen nun, der Hals ein Klumpen. Das Bewusstsein, dass der Tod selbst vor seiner Tür sein musste. Welcher Gott vermochte ihm jetzt noch zu helfen?
Wwwwaaaaarrrrrruuuuummmmm iiiiiisssssstttttt ddddddeeeeeiiiiinnnneeee Ttttttttüüüüüüürrrrrrr aaaaabbbbbbbbggggeeeessssscccchhhhllllloooooossssssssseeeennnnnnn Mmmmmmmm aaaaaaaa rrrrrrrr iiiiii uuuuuuuu sssssss. Wwwwwwiiiiiieeeeee sssssssooooolllllllllll iiiiiiccccchhhhh ssssssiiiiiiiieeeee ööööööffffffnnnnnneeeeeennnnnn.
Atemnot. Panik. Die Augenlieder fest zugedrückt. Der Körper nunmehr einem kleinen, wimmernden Ball gleich. War es selig, oder befreiend, als er sich selbst verlor? Die Ohnmacht überkam ihn.
Als er sich selbst spürte, das Gesicht halb in etwas brockig-feuchtem auf dem Boden liegend, die von Tränen und Erschöpfung zerfurchte Visage brennend, wusste Marius erst nicht, ob er tot oder lebendig war. Alles schmerzte. Die Finger, die Arme, der Körper. Die Beine. Sein Kopf war wie in einer dicken Schaumstoffumlage eingewickelt. Nicht so richtig da. Nicht so richtig fern. Es war finster. Nicht Nacht-Finster. Es dauerte einige Momente, aber seine Augen konnten keine Umrisse erkennen. Nein. Dies war eine Dunkelheit ohne Licht. Dies war eine Lichtlosigkeit, die er noch nie erlebt hatte. Diese Finsternis hatte nie einen Strahl der Helligkeit erlebt. Schwarz.
Dann setzte das Brennen ein. Zehntausend kleine Nadelstiche, welche sich durch seinen Leib zogen. Jeden Punkt gleichzeitig traktierten. Längst schon waren keine Tränen mehr in ihm, und nur noch gutturale Schmerzlaute konnten sich aus ihm emporreißen. Marius rang.
Aufhören!
Bitte!
BITTE!
MACH
DAS
ES
AUFHÖRT!
Irgendwann, Marius wusste längst nicht mehr die Zeit zu zählen, hörte es auf. Er war nur. Kalt, schwer atmend. Er wusste, dass wenn man ihn sah, er vermutlich erbärmlich aussehen würde. Ein menschlicher Körper, ungelenk auf den Boden im Flur liegend. Kein Geräusch im Hintergrund. Kein Lichtstrahl, der ihn abholen kam. In gewisser Weise war es, als wäre er inmitten von etwas, das ursprünglicher war. Der lag nicht auf dem Boden. Es konnte genauso gut die Wand, oder die Decke sein. Distanz, Ort, Sicht. Alles hatte seine Bedeutung verloren. In diesem Moment war er nur mit sich selbst und seinem Schmerz.
Er war allein. Vielleicht sogar allein auf der Welt? Gab es die Welt noch. Oder war diese Finsternis das Ende. War es...das Ende? Inmitten der Lichtlosigkeit, in der weder Raum noch Zeit ihre Bedeutung sahen, zerfloß er. Seine Gedanken, endlich frei von allen Banden, allen Bedrängnissen, fanden ihr eigenes Licht. Er war sein eigenes Licht. Es war kein Alptraum. Es war der Traum selbst, der in ihm sein Ende fand. Das Auge, das nach Innen sah. Jenseits der Domäne von Göttern und Menschen war er geworden.
Eins.
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