20240613

Die Stille

Ich kann die  Welle sehen, als das Boot am Pier ankommt. Wie sie sich ausbreitet, vom marmornen Steg zurückgeworfen. Die absolute Ruhe des Wassers gestört durch den sich langsam ausbreitenden Kreis aufgeworfenen Wassers, ehe es sich nach einigen Metern wieder verflüchtigt.

Es ist die Ruhe, die einen überkommt, wenn die Füße vom Holz des Bootes auf den Boden wandern. Selbst, wenn ich den Blick nur langsam hochschweifen lassen will, wird es mich umwerfen. Was schon von weitem sichtbar ist, wird von nahem nur überwältigender. Die angerissenen, an einigen Stellen zaghaft von kleinsten Trieben angegriffenen weißen Marmorplatten welche den Weg zu den Treppen aufzeigen. Zur großen Treppe, welche den Mittelpunkt vom Steg darstellt.

31 Stufen, und eine jede in einer anderen Farbe, bemalt mit den Zeichen der Herrschaft jedes Reiches, das unterworfen wurde. Jede Stufe ein Tribut zur Fertigstellung des Palasts selbst. Eine große Geste der Unterwürfigkeit vor der ewigen Beständigkeit der Titanokratie.

Am Treppenkopf die grauen Felsen. Der alte, ursprüngliche Boden der Insel. Lange, bevor das Imperium kam, und die Empressa Telos den Tempel niederbrennen und ihren Palast hier errichten ließ. Flankiert von den mächtigen Ecktürmen, welche in Blau, Gold und Schwarz den Anfang und das Ende des Reiches darstellen sollten.

Der Pfad führt gemächlich hinauf zum großen halbrunden Portal,  das größer als jede Menschenseel nur Titanen angemessen sein kann und den Blick in den vorderen Hof erlaubt. EIngeengt, mit überdachten unzähligen Korridoren im Stile der nordöstlichen Provinzen, ist der Boden von Mosaiken über die Eroberung der Reiche bedeckt, während zur linken wie zur rechten neben Abgängen auch die Pfade hinauf stehen. Bereit sie lassen jedweden Gedanken an ein Entkommen fahren. Von oben blicken steinerne Fratzen. Die Schutzgeister. Die Überdauerten, Dirkesen genannt, die Augen der Herrschaft. Die jeden Schritt in diesem Palaste sehen, nie verschlossen. Und jedes Bildnis in Windeseile ihrer Herrin zeigen.

Es bereitet mir kein Unbehagen. Nicht mehr. Ich weiß, dass ich es einst hatte. Als ich zum ersten Mal herkam. Als die Welt jünger war, aber längst jedweder Unschuld beraubt. Beinah unbewusst drehe ich mich am Portal noch einmal um, der Blick zum Wasser. Ich kann das Boot, mit dem ich ankam noch sehen. Die beiden blinden Fährleute, seit Kindesbeinen auserwählt auserwählte Gäste zum stillen Palast zu bringen. Sie können nicht sehen, aber es heißt dass sie die einzigen sind, die ohne weiteres die Stimme der Empressa gehört haben sollen. Ein weiteres Ammenmärchen der Massen. Ich fühle nichts mehr. Sie nahm mir meine Angst.

Die Wege hinein. Weitere Treppen und kleinere Schrägpfade. Der gesamte Palast ist auf dieser Schräge nach oben gerichtet. Etage um Etage nach hinten versetzt, mit dem großen säulenumwandten Rundbau und der großen Treppen hinauf zu ihrem Sitz selbst. Kleine Plaketten an den Korridoren, an denen ich vorbei gehe. Kein Laut ist zu hören, während meine sandalenbewehrten Füße entlang treten. 

Ich komme an einem Korridor vorbei, der dicke Geruch von Rauschkräutern, von Weihrauch, Myrrhe und anderen liegt in der Luft. Ich kann aus dem Augenwinkel das Halbdunkel der Räume, die ich streife durchblicken. Die Leiber, die sich in Ekstase winden, deren Fleisch ineinander fasst, wo Schweiß, Blut und Samen sich vermischen und ein dichtes Odour erschaffen.

Auch an den Räumen der Arkaniker komme ich vorbei. Sie würdigen mich keines Blickes, so vertieft sind sie darin, einem Jüngling mit chirugischer Präzision die Eingeweide zu entfernen und das Blut zu sammeln. Die Gestalt, der Jüngling, er zuckt noch. Benebelt. Glücklich. Es widert mich an.

Die Schatten an den Korridoren werden länger. Ich weiß, dass ihre Diener mich längst wahrgenommen haben, aber niemand traut sich an mich heran. Ihre Konturen spüren meinen Schritten nach, und bleiben doch immer am Rande meiner Sicht. 

Dort, wo ich erwartet werde, sehe ich die Hand, welche aus einer Biegung kommt. Sie ist in weiß gehüllt. Der Farbe des Verfalls. Des Todes. Sie zeigt auf einen Durchgang, durch dessen Inneres ich die heiße Feuchtigkeit sehen kann, die in dünnen Wolken herausströmt. Die Hand verschwindet. Als ich vorbeigehe, ist niemand im Korridor zu sehen. Genausowenig wie irgendein Punkt an dem sich jemand hätte verstecken können. Das erhitzte Becken. Ich entkleide mich. Unzählige Narben, die zum Vorschein kommen.

Für viele sind es Ehrenzeichen. Signale, dass sie etwas geleistet haben, etwas gegenüberstandem und sie überlebt haben. Für mich sind es Erinnerungen. An meinem Bein, der schwere Schnitt als ich die 7te Legion gegen die Erwählten führte. Jener, auf meiner Brust, ein Mordanschlag der mein Herz verfehlte. Ich konnte nur von Glück sagen, dass sie im Morden schlechter war als im Kurtisanentum. Diese, über den Rücken meiner Hand, die Folter nach der Gefangennahme durch den Tyrannen von Quios. Sie, und all die anderen erzählen Geschichten. Ein Leben in Schmerzen.

Das Wasser umfasst mich und die Hitze benebelt mich. Ich schließe die Augen, und spüre die Hände, welche mich berühren. Erst zwei, dann vier, schließlich sechs Hände. Sie umtänzeln jeden Zentimeter, massieren und fahren entlang, wo Anstrengung und Jahre mich haben altern lassen. Es dauert länger als mein bisheriges Leben. Als es vorbei ist, scheint es nur ein paar Herzschläge gleich. Als ich aus dem Becken steige, bin ich allein. Die nassen Fußspuren auf dem Boden um das Becken das einzige Zeichen für die anderen.

Mir wurde eine samtene schwarze Robe bereitgelegt. Nachdem ich mich ankleide, führt mich der Pfad hinauf. Ich weiß, was mich erwartet. Der große, schwere Baum, der durch das Zentrum des Rundbaus stößt, und ein heimliches Herz in die Tiefen des Palasts darstellt. Die unzähligen Schalen und Eimer, welche jenes kostbare finstere Blut auffangen, das dem harzigen Leib des Prasinos entspringt. Die verzerrte Fratze, ein kaum mehr menschliches Gesicht, in das Holz geschmolzen, und sich beinah unmerklich bewegend auf dem unzählige Meter dicken Baumleib.

Die großen Treppen, welche sich um den Baum winden und den Pfad hinauf bestimmen. Selbst jetzt sind Bürokraten auf jeder Stufe der Treppen zu sehen, mit Anliegen, Bittstellungen, Gesuchen und administrativer Entscheidungssuche. Und jedem von Ihnen kann ich ansehen, wie sehr es sie vergrält, hier stellenweise Stunden oder Tagelang zu warten, ehe sie voran schreiten dürfen. Sie alle nach ihren Positionen.

Ich gehe an Ihnen vorbei. Schritt für Schritt, bis ich die vollen dreißig Fuß überwunden habe, und oben ankomme. Noch bevor ich auf Sichthöhe bin, kann ich schon das geflüsterte Schreien desjenigen hören, der vorspricht. Alle lauten Töne wurden nach dem Bau des Palasts verboten. So lautet das Edikt der Empressa. So ist es bestimmt. Dass es jene für die Verwaltung unabdingbaren Persönlichkeiten stören mag, scheint der mächtigen Gestalt auf dem langgezogenen Liegesitz wenig auszumachen.

Die Poeten sagen, dass Titanen unbeschreiblich sind. Ich weiß nur, dass die Macht der Form der Empressa mir selbst die Worte fehlen lässt. Das dicke creme-farbene Gewand, das im Licht der untergehenden Sonne einen rotgoldenen Ton annimmt. Die schwarze Maske, welche das Gesicht bedeckt. Der winzige Schreiber vor ihr, der ihr stehend nicht an die Hüfte gerreichen würde.

Sie gebietet Stille. Winkt den Bürokraten weg. Ich gehe vor ihr auf die Knie. Ich liebe sie. Niemand kann ihre volle Stimme ertragen. Jene, welche ihr begegneten in den Tagen der Eroberung gingen daran zugrunde, als sie ihren Ruf erklingen ließ. Aber Telos I, Empressa des Imperium Cordis, spricht nur, wenn es ihr geboten ist.

Als ich ihr vom Zustand der Provinzen berichte, scheint sie aufmerksam zuzuhören. Von den Handelsdisputen, und dem Abbriss aller Botschaften der östlichen Handelsrouten. Den Krankheiten, welche die Bewohner ihrer schönen Stadt heimsuchten. Den Tyrannen, welche sich dem Reiche unterwerfen wollten und sie um den Segen baten. Als ich am Ende angekommen bin, meine nächste Aufgabe erwartend, sehe ich, wie sie den Kopf hin und her bewegt. Nachdenkt.

Und sich erhebt. Mein Herz schlägt wild, und über Wasser und Grenzen aller Welt sehe ich, wie sie an den Rand des Rundbaus schreitet, jeder Schritt den Boden leicht zum Beben bringt. Und doch, es eine, wenn nicht gar die seltenste Ehre ist, dies sehen zu dürfen.

"Mein Imperium stirbt."

Die Worte sind Pfeile, sie finden mich und bohren sich durch meinen Kopf, durch mein Herz und lassen meine Seele in Angst frohlocken.

"General. Schickt die Gesandten nach Osten.
Jenseits all unserer Grenzen werden sie dort die
Vorposten der alten Völker finden.
Dort, wo die weiße Hand nach dem Himmel streckt
werden sie Herz dieser Welt finden."

Mir geht ein kaltes Schaudern über den Rücken. Die Sonne ist untergegangen, und beinahe wie von selbst kann nun das leichte silbrige Leuchten noch besser gesehen werden, das bei diesen Worten ihre Form umspielt.

"Bringt. Es. Mir."

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