In meiner Novelle-Reihe biete ich immer wieder kleine Einblicke in Schnipsel und Fragmente von Geschichten, die mir ebenso im Kopf rumfleuchen, die aber noch nicht zu einer vollständigen Idee herangewachsen sind, und deswegen nur als kleine Kurzgeschichte oder eben dem Anfang einer solchen stehen. Heute auf dem Programm:
Traumwandler
Die Dunkelheit wich einer Erleuchtung. Nach und nach konnte er die Umrisse erahnen, die dieser Ort hatte. Der steinerne Untergrund, ein Mosaik-Muster im Fels, das sich bis an seine entfernten Wände zu erstrecken schien. Diese wiederum, an strategischen Punkten durch Fackelschein erleuchtet, zeigten sich im warmen Lichte als dunklen Stein unbestimmbarer Herkunft, der nur entfernt durch eine einsame, schwere, hölzerne Tür betretbar zu sein schien.
Die Kammer war ihm inzwischen vertrauter geworden, als er zugeben wollte. Wieder und wieder hatte er sie durchlaufen müssen, bei jeder Rückkehr war sie der erste, aller Orte, an den er zurückkehrte. Es war der Beweis dafür, dass er angekommen war. Wieder. An jenem Flecken, an dem Hoffnung und Vernunft vergebens waren.
Ein leises Räuspern zu seiner linken. Ein älterer, im schwarzen Livree an der Wand stehender Mann unbestimmbaren Alters, irgendwo zwischen Anfang 30 und Ende 50, in bestimmter Pose, blickte auf Ihn herab. In seiner Rechten ein silbernes Tablett, auf dem ein kleines Kärtchen in gefalteter Form lag, bereit abgenommen zu werden.
Er stand auf, schüttelte sich, und bewegte sich auf den durchaus als Butler zu vermutenden Herrn zu, wenige Schritte trennten die beiden, weniger als man bei einem ersten Blick den Anschein hätte, wenn man davon absähe, dass selbst sein Aufstehen und Gehen abgeschnitten wirkte, als würde man einzelne Momente zwischen jedem Schritt entfernen und herausschneiden, nur um sie dann erneut zusammen zu setzen.
Er nahm das Kärtchen an sich, faltete es offen, las. Drei Worte waren in kurzen, schnellen Strichen darauf verzeichnet.
Neue Quelle Haupthalle
Er seufzte, knickte das Kärtchen zusammen, steckte die zusammengeballten Überreste in die Hosentasche und fing an Richtung Tür zu wandern, während der ältere Herr ihm folgte.
Wortlos marschierten sie durch die sich von selbst öffnende Tür, welche lautstark knarzte beim Aufschwingen, wie von Geisterhand, und hinter Ihnen auch wieder ebenso laut zuschlug, während sie die Korridore, flankiert von großen Fenstern mit schweren burgunderroten Vorhängen passierten, welche einen Ausblick auf mehreren Metern Höhe auf eine chaotische Landschaft boten. Hügel, die sich beim Passieren verformten, abflachten oder in Sekundenbruchteilen zu unzähligen Metern Höhe heranwuchsen, Felder, auf denen Pflanzen ebensoschnell hochsprossen wie vergingen, Ein Fluss, dessen einzige Flüssigkeit Groll war.
Er kannte all dies schon, und zollte dem keine Beachtung mehr. Vom Echo ihrer Schritte begleitet, erreichten sie einen Durchgang, der in eine große Halle führte, in deren Zentrum, eine große doppelseitige Treppe hinunter flankierend ein Kamin stand, der geradezu einsam und verlassen vergeblich zu versuchen schien, den Raum zu erleuchten, erwärmen. Umgeben von mehreren Sesseln und Sofas barocker Art, mit abblätternder Goldfarbe an Beinen und Lehnen, einem großen, ausgefransten Teppich unter allem, der gefährlich nahe am Feuer zu stehen schien, und einem Riß durch die Realität, der sich unmittelbar über dem zentralen, niedrigen Couchtisch befand.
Während ihre Schritte lauthals durch die Halle knallten, blickte sie auf, und zog die Beine vom Sofa herunter, vorsichtig darauf achtend, nicht unter der seidenen Decke, welche sie um ihren Leib gewickelt hatte, hervorzukommen, die im purpurnen Schein strahlte, der durch das Feuer widerhallte.
Sie kamen am Zentrum der nun noch durchaus beachtlicher und größer wirkenden Halle an, die sich ihrer Maße ebenso wenig bewusst wie stetig zu sein schien, und ein Knistern, das über das der Flammen des Kamins im Zentrum hinausging, erfüllte das Ambiente. Er blickte auf, schenkte ihr nur ein kurzes Lächeln, ehe sein Blick zum Riß wanderte.
Sie knackte mit ihren Fingern, er zuckte kurz angesichts des für ihn gräßlichen Geräusches zusammen, wandte sich dann zu ihr.
Samuel - Wie lange schon?
Sie strich sich mit einer Hand durch das seit einiger Zeit wieder wachsende, rötlich-braune Haar, das langsam den kahlen Kopf zu bedecken begonnen hatte, und nur noch wenige der schweren Narben zeigte, die sie von der Tortur davongetragen hatte, ehe sie seufzte, um ihm zu antworten.
Cybil - Noch nicht lange, erst ein paar Stunden. Denke ich.
Sie schüttelte den Kopf, blickte sich um, deutete in die Halle, all ihre Ecken hinein.
Cybil - Es ist nicht so, als ob hier irgendwo eine Uhr stehen würde. Und selbst wenn, ob die Zeit, die sie einem anzeigt, auch richtig wäre.
Samuel schüttelte den Kopf, während er sich auf dem Sofa, von dem sie aufgestanden war, nieder ließ. Sie setzte sich zu seiner Rechten daneben, und legte den Kopf, anlehnend, auf seine Schulter. Für einen Augenblick, war nur das Knacken und Knistern des Kamins vernehmlich. Samuel schüttelte noch einmal den Kopf, fuhr mit seiner linken über die eigene Wange, wie um sich unwillkürlich zu versichern, dass sie noch da sei, während er mit der rechten anfing, sanft ihren Rücken zu kraulen.
Samuel - Bennett, Heiße Schokolade.
Wortlos stellte ihm der ältere Herr eine dampfend heiße Tasse eleganten weißen Porzellans mit heißer Schokolade auf den Couchtisch, jede Bewegung exakt und genauso abgestimmt, nicht den Riß zu berühren. Samuel nahm mit der linken die Tasse auf, während Bennett sich wieder in absolut kerzengerader Position aufstellte.
Samuel - Bennett?
Der als Bennett angesprochene ältere Herr drehte den Kopf um 45° in seine Richtung, und blickte ihn mit einem seitlichen Schneid an, der vor Verachtung triefte, ehe seine nasale Stimme erklang.
Bennett - Sir?
Samuel - Was sagt das Crak zu diesem Riß?
Bennett rührte sich nicht, aber für den aufmerksamen Beobachter war offensichtlich, wie seine augen einen milchig-weißen Ton bekamen, wie sein eben noch funktionierendes Atmen sich einstellte, wie sein Leib kalt wurde, ehe er wieder zu sprechen begann, mit einem tiefen Seufzer angefangen.
Bennett - *SEUFZ* Sir, das Crak kennt diesen Riß nicht. Wenn es nach ihm geht, gibt es ihn nicht. Er ist eine Illusion, ein Hirngespinst. Eine Verneblung der Sinne.
Samuel schlürfte genüsslich die warme Schokolade, die, noch immer heiß, aber nicht mehr geradezu kochend, seine Kehle herunter ran, die Augen geschlossen, den Moment auf sich wirkend. Die Wärme Cybils zu seiner rechten, seine Hand auf ihrem Rücken, das gemütliche Sofa, während um ihn herum Staub rieselte und er sehen konnte, wie die Korridore sich verschoben.
Das Crak dé Reve veränderte sich. Es veränderte sich zu jedem Moment, an seinem Punkt, an dem es saß, an einem unbestimmbaren Ort, irgendwo inmitten der Träume der Menschheit. Irgendwo entstanden neue Korridore, Personen und Orte, während alte zerfielen, unbenutzte Gänge sich auflösten. Nur einige wenige Bereiche blieben erhalten, welche Samuel verfügt hatte, ob es durch seine Willenskraft gegenüber diesem Ort war, oder weil es ihn als neuen Bewohner diese Freiheit belassen wollte, er hätte es nicht sagen können.
Das langsame Atmen, und die Wärme des Feuer lenkten vom Riß ab, er lehnte sich langsam nach hinten, gegen die Rückenlehne des Sofas, und bemerkte, das Cybil eingeschlafen war oder zumindestens so wirkte. Sie wimmerte leicht, was ihn veranlasste, sie näher an sich zu ziehen. Fast unbewusst griffen ihre Arme nach ihm und zogen ihn näher zu sich. Er hatte es schon einmal gesehen.
Die Erinnerung. Die Fabrik. Der Augenblick, als er durch den Riß dort gelandet war, wo ihn das Krak zum damaligen Zeitpunkt hingeführt hatte, wo Menschen wie Tiere abgeschlachtet wurden, wo gigantische Kreissägen ihr blutiges Werk verrichteten. Der Traum war hinter im zusammen gebrochen, als er Cybil daraus befreit hatte. Es war das erste Mal, das er das gemacht hatte. Vor diesem Mal war er oft nur Reisender, Wanderer auf unbestimmten Pfaden. Nach Sinn und Zweck suchend. Hier aber war jemand in Not gewesen. Und er hatte geholfen. Die Folgen waren nicht abzusehen.
Das weiter Knacken ließ ihn zusammen fahren. Der Riß hatte sich ein paar Zentimer ausgebreitet. Wenn er sich anstrengte, konnte er Details erkennen. Geräusche hindurch dringen hören. Ein bewölkter Himmel, auf einer Küstenwiese. Im Hintergrund ein Drachenboot. Wikinger. Eine Szene wie aus einem Historiendrama der BBC. Plünderungen an der Küste. Er musste nur die Hand ausstrecken, zugreifen, und der Riß würde ihn zu sich holen, aufnehmen und an diesen Ort versetzen, an dem Raub, Mord und Brandschatzen an der Tagesordnung sein mussten. Was für ein gewalttätiger Traum.
Ein kleines Schluchzen zu seiner Seite. Er zog die Hand zurück. Er würde auch später noch Zeit dafür haben. Setzte die Porzellantasse ab. Ein kurzer Blick zu Bennett. Seine rechte Augenbraue ging hoch. Bennett verbeugte sich, und verschwand nach kurzem, geräuschlos in einem der Seitenkorridore der Halle. Sie zitterte wie Espenlaub. Fror sie unter der Seidendecke?
Er hob die Decke an, huschte an ihre Seite, darunter. Kurz darauf hörte sie auf zu zittern.
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