20140221

Fall 1 - XI


Der Junge sieht ganz anders aus, als der Typ aus der Wohnung und auf den Fotos. Wer zum Henker ist der Bursche? Und warum liegt er unter Mokhovs Namen in der Tiefkühlvorrichtung? Ist das der Grund weshalb kein Bild in Mokhovs Datei war? Damit niemand dahinter kommt, dass hier ein falscher Körper liegt? Wer oder was profitiert davon? Hat Mokhov seinen eigenen Tod vorgetäuscht? Warum suchten die WhitePower-Trottel nach ihm und dem Mädchen? Was hat das Mädchen damit zu tun? Wird wohl Zeit, dass ich mal zum Silverhill fahre.



Erst mal einen tiefen Zug an der Zigarette. Macht die Welt gleich viel rosiger. Nicht so toll ist die Tatsache, dass ich hinter mir ein Räuspern höre. Drehe mich langsam um. Zigarette verstecken kann ich jetzt eh nicht mehr. Eine ältere Dame. Anfang Vierzig. Haare zusammengebunden zu einem Pferdeschwanz, das hagere Gesicht etwas eingefallen um die kleine Gnubbelnase, von ewigen Nachtschichten leicht bleich in der starken Helligkeit der Totenhalle, der weiße Arztkittel und die fehlende Schminke deuten klar auf eine Pathologin hin. Namensschild. Mendez. Fräulein oder Frau? In dem Alter vermutlich Frau. Hmmm. Sie schaut mich an, mit dieser Mischung aus Verwunderung und Zorn, den man nur haben kann, wenn man das Gefühl hat, dass man gleich mit rechtschaffener Wut auf einen anderen niedergeht. Sie wirkt auch so, als ob sie mich gleich kleinschlagen würde. Was sind die Leute heute aber auch alle aggressiv. Uh oh, die Pause zwischen uns wird immer länger. Warum sagt sie nichts? Wir können uns nicht die ganze Zeit anstarren. Immerhin hat SIE MICH überrascht. Also müsste es doch an Ihr sein, etwas zu sagen, oder?



Ich räuspere mich kurz, ziehe nochmal tief an der Zigarette, die langsam aber sicher auf den Stumpf zurückgeht, Asche wie selbstverständlich auf das nächste Objekt ab. Ihre Augen werden groß, sie schlägt mir in die Hand, die Zigarette fällt runter.



Mendez - Nicht in den Leichnam!



Ups. Der Stummel fliegt in irgendeine Richtung, ich reibe mir die Handfläche. Gucke sie etwas entsetzt an. Gut, andererseits, aus Reflex in die Schussverletzung des Toten abzuaschen war im Rückblick vielleicht auch nicht die cleverste Idee die ich bisher hatte.



Mendez - Wer sind Sie?! Und was machen sie um diese Uhrzeit hier? Und warum rauchen Sie hier! Hier ist Rauchverbot!



Zeichner - Frederiksen. Fall untersuchen. Verlangen. Ignoriere Ich.



Mendez - Sie sind wohl kaum Frederiksen. Frederiksen ist ein untersetzter kleiner Italiener mit Schuhgröße 51 und weniger Haar als Gorbatschow.



Zeichner - Ähh



Betont lässig geht sie zur Wand, an welcher ein kleines Diensttelefon hängt. Mitsamt einem großen roten PANIC-Knopf. Ihre Hand bleibt genau über diesem stehen. Sie schaut mich an.



Mendez - Geben sie mir einen Grund warum ich diesen Knopf nicht drücken sollte.



Zeichner - Ich kann Ihnen sogar zwei geben. Nummer Eins ist, das der Mann den sie glauben hier zu haben, nicht der ist, der er zu sein vorgibt, und der zweite ist, das jemand den Officer auf dem Flur um die Ecke erschossen hat.



Für einen Moment schaut sie mich an, und ich kann förmlich zusehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf sich zu drehen beginnen. Zu einem Schluss kommen. Sich weiten. WUMS geht die Hand auf den Knopf. Mist. Ich und meine Gabe mit Frauen. Sie schaut mich immer noch mit großen Augen an. Nützt nichts. Ich nehm die Beine in die Hand, renne aus der Abteilung raus, stehe im Flur. Linkerhand kam ich, also renne ich rechtergangs weiter. Durch den tiefen Korridor irgendwo unter dem Riesen der das CCPD ist.



Laufe, so schnell mich meine Beine tragen können. Über mir flitzen die vereinzelten Lampen nur, das seltene Neonlicht, das die Dunkelheit durchbricht, während ich an Türen und Fahrstühlen vorbei wetze, den seltsamen Türmarkierungen folgend in der Hoffnung, dass sie mich irgendwo anders hinbringen als "tiefer". Im Hintergrund kann ich dabei das stetige Plärren der Alarmsirenen hören. Durch das ganze Gebäude. Komme an einer T-Kreuzung an, hier im Untergrund, sehe aus einer Richtung eine Gruppe von Officers.



Polizist - Da ist er! Stehenbleiben oder wir schießen!



Muss er nicht zweimal sagen, da bin ich schon am weiterlaufen. Beim Laufen bemerke ich wie weiter vorne eine Fahrstuhltür rechts aufgeht, und ein kleines Wägelchen mit Kartons drauf rausgeschoben wird von einem Typen in Lieferklamotte. Als ich nur noch wenige Momente entfernt bin, setze ich den Sprung an, und mit einem Satz bin ich rüber. Hinter mir knallen Kartons zu Boden. Der Typ schreit noch nach. Irgendwas Unfreundliches. Irgendwas, das er mir oder meiner Mutter antun will. Immer diese Jugend von heute, tz tz tz.



An der nächsten Biegung um die Ecke, sehe ich vor mir die andere Seite des Checkpoints für den Untergrund. Mist. Sicherheitsglas, Durchgang verschlossen, Kartengerät an der Seite und auf meiner Seite ein unfreundlich aussehender Polizist, der sich gerade im Sitzen der Schrotflinte neben ihm zuwendet. Verliere keine Geschwindigkeit, renne auf ihn zu, für einen Moment ist es wie in Zeitlupe. Er nimmt die Flinte, und in beiden Händen haltend richtet er sie langsam auf mich, als er sein Wörtchen rufen will, als ich schon ran bin und ihn voll über den Haufen renne. Mitten rein. Die Flinte fliegt irgendwo zur Seite als unsere Körper kollidieren. Es tut weh. Verdammt noch eins, tut es weh. Er liegt ungünstig mit dem Rücken an seiner Tischkante, schüttelt benommen den Kopf, ich reiße die Sicherheitskarte durch den Kartenleser, höre wie die Tür aufgeht, schmeiße ihm die Karte ins Gesicht. Und renne weiter.



Laufe um mein Leben. Egal wo ich hinkomme, das Plärren der Alarmsirenen verfolgt mich. In einem Seitenkorridor entdecke ich einen Notausgang. Reiße diesen auf, irgendwo wird vermutlich ein weiterer Alarm ausgelöst, aber das ist mir jetzt egal. Renne weiter, so weit mich meine Beine tragen. Draußen hat der Regen wieder zugenommen und transportiert jetzt all die Schmutzigkeiten, die er den Tag über angesammelt hat. Renne. Der Parkplatz. Kaum eine Person zu sehen, erreiche den Van, schließe auf und schmeiße mich hinein.



Schlüssel ins Zündschloss. Klappt nicht. Verflucht. Ruhig Blut. Lege den Schlüssel ordentlich hinein, drehe, lasse den Motor starten. Fahre betont normal an. Ganz ruhig. Fahre langsam vom Parkplatz runter auf die Kreuzung und Richtung City. Richtung Büro. Richtung Heimat. Richtung Normalität. Wobei, so großartig normal wäre das vermutlich jetzt nicht. Insbesondere weil ich immer noch im Van der WhitePower-Bande unterwegs bin. Auch nicht unbedingt das beste Fluchtfahrzeug. Ob sie mir den Mord am Polizisten auch noch anhängen werden? Zuzutrauen wäre es ihnen. Verdammte korrupte Staatsapparat. Mist Mist Mist Mist. Schlage mehrfach auf das Lenkrad ein. Nützt nichts. Kann um diese Uhrzeit auch nicht unbedingt nach Hause, auch weil sie vermutlich meine Wohnung sichern werden. Wohnung mitsamt Büro. Ärgerlich. Also was tun? Nun, wenn man nichts anderes hat, erst mal ein ruhiges Eckchen.



Nach ein paar Kilometern über die Straßen der Stadt, wo um diese Uhrzeit eh kaum Verkehr herrscht, fahre ich bei einem Drive-In rein. Max-Imum Burger. Die plärrende Stimme aus dem rostenden Pseudo-Burger, auf dem auch das Menü abgebildet ist, verrät mir, dass hier eine typische Null-Bock-Kraft arbeitet. Bestelle mir ein paar Fritten, den größten Burger, den sie haben, den üblichen Stressfrust-Fresskram. Hole es mir vorne ab, fahre dann mitsamt dem Essen auf dem Beifahrersitz weiter durch die Stadt. Als ich die Viertelgrenze zu Centersville überquere, fahre ich auf einen anliegenden Parkplatz. Kaputte Zäune, demolierte Spieltrassen, ein paar schrottreife Autos und heruntergekommene Gebäude aus dem letzten Jahrhundert die schon seit langem nicht mehr saniert wurden, dominieren hier das Bild. Der Parkplatz, abgeschieden, einsam und verlassen, gerade zu öde, erscheint mir ideal. Nachdem ich einigermaßen zum Stehen gekommen bin, hau ich mir was zwischen die Kiemen. Und denke nach.



Der Mann, der sich angeblich vom Greenpoint geschmissen hat, ist nicht derselbe, der in der Tiefkühlkammer liegt. Eine rechte Gruppierung ist auf der Suche nach aber eben jenem Kerl und einer Frau mit der er zu tun hatte. Ich denke mal, ich liege nicht weit ab vom Schuss, wenn ich denke, dass es um das Blondchen geht. Frage ist nur, warum. Und wenn er nicht derjenige ist, der den Löffel abgegeben hat, wer ist der Tote dann. Und warum will seine "Schwester" wissen, warum er tot ist, wenn sie vermutlich zur Identifizierung der Leiche herangezogen wurde? Es erscheint klar, dass ich benutzt werde, aber für wen und welche Zwecke, ist mir noch immer unklar. Wer ist Herr Untermayer und warum sucht er "das Mädchen"? Wer ist Herr Jeffchewski und warum ist die Erwähnung seines Namens eine Drohung? Das Untermayer einen Kontakt in der Polizei oder zu den MIBs unterhält ist klar, oder? Andererseits, was, wenn er eigene Leute hatte, die die Kipling Street überwachten? Müsste er dann aber nicht wissen, dass es nicht Mokhov war, der gesprungen ist?



Und wenn der Handwerker den Polizisten im Keller erschossen hat, welches Ziel verfolgte er damit? War das vollkommen unzusammenhanglos oder gehörte er dazu? Wusste der Polizist vielleicht etwas, was mir hätte weiterhelfen können? Oder war er einfach nur ein Hindernis auf dem Weg in die Abteilung? Davon abgesehen, dass ich jetzt gar nicht in der Asservatenkammer, die weiter innen gelegen war, gekommen bin. Mist. Weitere Chance verpasst. Kann ja auch nicht ahnen, dass die Mendez sofort den Alarm auslöst, sobald jemand erwähnt, dass irgendwo ein Toter liegt. Gut, andererseits, wäre ich ein psychopathischer Irrer gewesen, wäre ihr Leben vermutlich bedroht gewesen und die Reaktion durchaus gerechtfertigt. Nicht gerade gut für mein Selbst-Image. Oder das Image gegenüber der Polizei. Argh.



Ich kann also nicht nach Hause. Rassila anrufen kann ich nicht, weil sie mich kontaktieren will. Vermutlich sollte ich heute Mittag mal bei Frau Schwarz nachprüfen, ob die Rassila angerufen hat. Bleibt die Frage, wo ich weitermachen soll. Bleibt eigentlich momentan ja nur Silverhill. Das Herz des städtischen Reichtums. Der einzige Ort, wo Arroganz und Idiotie als Extravaganz abgetan werden können, weil auf dem Gehaltschecks mindestens Sechs Nullen nach der Zahl kommen. Das heißt private Sicherheit, private Anwesen und private Gemeinschaft. Mauern und Stacheldraht sowie Wachhunde die Grenzbereiche bewachen. Kommt man sich schon beim Angucken wie im Ostblock vor.



Die letzte Fritte ist gegessen. Kein Burger mehr drin. Vermutlich ist ein APB oder ATL bereits rausgegangen auf der Suche nach mir. Kann nur hoffen, dass die Beschreibung un der Zusammenhang nicht allzu gut sind.

Motor anlassen. Runter vom Parkplatz. Kurzer Blick auf die Uhr, Radio anmachen. Kratzt kurz, springt dann aber zu neuem Leben. Irgendwas belangloses an Musik flittert durch die Nacht, während ich die Straßen entlang brause zur Ausfahrt auf den Intercity nach Silverhill. Die Ausfahrt und damit die interstädtische Autobahn ist schnell erreicht, der Verkehr dünn um diese Uhrzeit, nur ab und zu sehe ich mal ein anderes Fahrzeug hier umher kreuzen. Glücklicherweise kaum Staatspräsenz. Noch während ich fahre, kommt mir aber auch eine andere Idee.



An der nächsten Abfahrt eben runter, ein paar Straßen weiter unter der Überführung geparkt. Ausgestiegen, Wagen abgeschlossen. Schlüssel in die Innentasche. Trenchcoat anziehen. Fühlt sich sowieso viel besser an. Holster ist auch wieder um. Mit geradem Schritt ein paar Straßen überquert, bevor ich vor dem Internetcafe halt mache. 24/7. Selbst um diese Uhrzeit sitzen noch Leute vor ihren Maschinen und machen Dinge, die besser im Halbdunkeln ihrer Nische und ihres Monitors bleiben sollten. Gehe rein, der Typ am Counter, ein junger Mann irgendwo Mitte Zwanzig blickt kurz auf, qualmt dann weiter. Trete an ihn heran, lege ihm etwas harten Cash auf den Tresen, er gibt mir eine Zahl und schiebt mir einen Zettel rüber. Zeigt dann auf die Uhr. Gucke auf den Zettel. Ahh. Nur bis 6h morgens. Setze mich in meine zugewiesene Nische und starte das Gerät.



Als er hochgefahren ist, direkt zur Internetrecherche. Namen. Daten und Informationen. Tatianna. Untermayer. Jeffchewski. White Power. Dimir Mokhov. Rassila. Das volle Programm.



Für den Anfang bestätigt sich, was Frau Schwarz erzählte. Rassila hat in russisches Geld eingeheiratet. Nicht nur Vanitystar.com sondern auch andere Nachrichtenmagazine berichteten über das hässliche Entlein das aus dem Nichts dem russischen Magnaten den Kopf verdreht hatte. Muss an mir vorbeigegangen sein. Kein Wunder, nicht unbedingt die Art von Story die mich großartig interessieren würde.  Halt. Was zum. Auf einem der Bilder auf der Page von Newsday ist Tatianna! Ich schau mich um. Niemand hinter mir. Artikel aufrufen. Lesen. Wirtschaftsmacht...bla bla....Import...bla...bla...AHA! Ne. Moment, der Artikel behandelt sie garnicht. Mist. Er dreht sich um Culf Rieé in einem Interview in seiner Villa im Stockson Drive. Auf dem Foto, das über dem Artikel prangt, sitzt der alternde Senator dem einst mal Verbindungen zum organisierten Verbrechen nachgesagt wurden mit dem Redakteur im Garten und man kann im Hintergrund seinen Garten sehen. Am Rand sitzt auf einer Steinbank das Blondchen, das auch schon auf Mokhovs Bild zu sehen war. Und wenn ich ganz genau hinschaue würde ich auch sagen, dass der junge Mann neben ihr, von dem man nur den Hinterkopf sehen kann, Mokhov ist. Interessant, die Heckenschere in der Hand und der Aufzug in dem er rumläuft. Gärtner also. Dann ist seine Bekanntschaft reiner Zufall? Dafür gibt es mir einen Anhaltspunkt neben dem Haus von Rassila in der Madison Lane. Zwei Orte. Ob Rieé mich einfach so reinkommen lässt? Versuch ist es wert. Ich mache einen Ausdruck vom Bild, lösche soweit ich kann, meine Spuren. Verlasse das Geschäft. Zünde mir eine Zigarette an. Latsche zum Auto.



Nächstes Ziel: Silverhill

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