20140428

Fall 1 - XXX



Auf dem einzeln verteilten steinernen Platten, welche alle paar Meter im Rasen eingelassen sind, knirschen meine Füße bedenklich. Jeder Schritt außerhalb dieser Platten bedeutet auf dem Rasen zu gehen. Dem feuchten, nass-kalten Rasen, der halb unter Wasser gesetzt nicht in der Lage zu sein scheint, das längerem andauernde Nieselwetter in sich aufzunehmen und deswegen anfängt abzusaufen.



Ungefähr auf halber Strecke, noch brauche ich das Mobiltelefon-Licht nicht, kann ich links eine Parkeinbuchtung erkennen, die Überreste an Holz die aufgeschichtet am Straßenrand auf dem Grundstück liegen und vom Regen benetzt aller Dinge harren war wohl mal das Fahrzeugtor zur Straße hin.



Zur rechten kann ich einen kleinen Fußweg am Gebäuderand erkennen, der um die Seite herumgeht und an Teilen des Zauns entlang verschwindet. Einige wenige Meter vor mir steht der Briefkasten, an dem die Hausnummer an einer einzigen verbliebenen Schraube hängend schief steht.



Die dahinterliegende Holztreppe, durchsichtig durch die einzelnen Sprossen, durch die man die darunterliegende Hauswand erkennen kann, führt knapp einen halben Meter nach oben, bevor auf einem kleinen Außenplateau, neben zwei halbzerstörten Sitzbänken welche durch ein Loch in der Decke mit dem Regen in Berührung kommen, sich die Doppelflügelige Tür befindet, die bei jedem Windstoß wie ein Warnzeichen schief im Ton wackelt und quietscht.



Man bekommt ein mulmiges Gefühl hier, aber ich bin schon so durchnässt, dass mir in diesem Moment alles lieber ist, als weiterhin im Regen zu stehen. Und alleine von hier und durch die Beleuchtung der Industrierohre ein paar Meter vom Grundstücksrand entfernt kann man immerhin noch recht gut was erkennen, was mich dazu bringt, mutigen Schrittes die Treppe hochzueilen und einfach die Tür im Sturm nehmend durchzubrechen.



Die Treppe knarzt bedrohlich unter mir und ich muss zu einem kurzen Sprung ansetzen, als eine der mittleren Treppenstufen wegbricht. Ich knalle hart mit Geschwindigkeit gegen die Tür, welche mit mir aufflattert, und lande ein wenig tiefer im Gebäude auf irgendetwas Weicherem.



Muss den Kopf schütteln, wieder klar werden. Komme hoch, schaue mich um. Eine lange Eingangshalle, ausgelegt mit einem dicken dunkelroten Teppich, der nun von schwarzen Brandlöchern, Ruß und Asche gesäumt ist. Der hintere Teil der Halle scheint durch den Einsturz und diverse Dachbalken versperrt. Die Wände sind im inneren, wie es von außen schien, hauptsächlich holzverkleidet. 



Linkerhand ist ein Durchgang, aus dem die Tür schon vor einiger Zeit raus gebrochen wurde, während zu meiner rechten offenstehend eine Glastür mit zersplittertem Innenglas den Weg weißt. Ich kann umgeschmissene Tische und Stühle erkennen, sowie Teile eines zerfledderten Vorhanges, der wohl an der Seite aus einem zerbrochenem Fenster raushängt.



Zur Rechten steht, soweit ich das erkennen kann, eine größere Anzahl von Regalen. Voll und Aber voll mit Büchern. Nach ein paar Schritten befinde ich mich im rechten Raum, den ich Bibliothek getauft habe, auch wegen der Tatsache, dass es wohl die Bibliothek ist, wie mir, als ich hereintrete, eine Plakette am Türrahmen verrät.



Reich vertäfelt und geschmückt, sind Teile der Bücher nur noch Brandware gewesen und die recht tief ins Haus reichende Bibliothek ist zu einem Großteil ungefähr ab einer Distanz von knapp sieben Metern mit dem Obergeschoß kollidiert, von dem aus ein schweres  Doppelbett mitsamt diversem Mobiliar von oben herunter gekommen sind, soweit man unter den angebrannten und schwärzlichen Überresten von solchem sprechen kann. Ein kurzer Blick auf die Literatursammlung kann nicht schaden.



Die Regale, die ich erreichen kann, jeweils immer knapp etwas mehr als mannshoch, trotz eines Stauraums auf der obersten Ablage, sind angefüllt bis zum Bersten und scheinbar thematisch sortiert. Ich finde ein Regal zum Thema Geschichte, mit Werken die sicherlich einen interessanten Blick auf seinen Besitzer werfen wie "Die Geschichte der Folter und Hinrichtung" oder "Freiheit durch Schmerz - Ein Blick auf die Folter im Therapeutischen Sinne seit dem Mittelalter" stehen neben Weltgeschichtsbüchern und großen Wälzern über Hochkulturen der Vergangenheit. Begleitet wird diese Ansammlung von Regalen mit Büchern über Metallurgie im Schwesterregal und einigen anderen Seltsamkeiten, die mich doch etwas mehr verstören, als ich erwartet hätte. 



Wobei mich wohl am meisten verwundert, dass diese Sachen nach einem kürzlich erfolgten Brand noch hier so vorzufinden sind. Die Adresse stimmt jedoch, von daher muss Fouquier sich hier irgendwo ursprünglich eingerichtet haben. Unklugerweise kann ich durch den Oberen Durchbruch kaum einen Pfad in den hinteren Teil der Bibliothek finden und den Rest des Hauses, von daher muss ich sie erst mal so liegen lassen, wie ich sie hier vorfinde. Kann nur den Kopf über mich selbst schütteln. Der Mann ist weder ein Bond-Bösewicht noch ist das hier ein Film. Er wird wohl kaum ein geheimes Nazi-Labor im Keller haben. Obwohl?



Langsamen Schrittes komme ich zur anderen Seite des Korridors, nachdem ich die Bibliothek verlassen habe. Ein einsames, offenes Fenster, das Glas gebrochen an der gegenüberliegenden Seite, das von Fuß bis an die Kopfseite des Raumes geht, mitsamt dem hinaus wehenden Stück Stoff, das wohl mal ein Teil des Vorhangs war, illuminiert den Raum von außen. Wobei mir jetzt erst auffällt, dass es zu Blitzen und Donnern angefangen hat.



Der Raum wirkt nicht ansatzweise so groß wie die Bibliothek, erinnert aber durch den langgezogenen Tisch und die vielen umher geworfenen und halb-angeknacksten Stühle deutlich an ein Esszimmer.  In der Mitte liegt eine zerbrochene Deckenlampe, während der Wind bedrohlich durch das offene Fenster rein seufzt. Der gelegentliche Blitz erhellt die Umgebung im Bruchteil einer Sekunde enorm, zeigt mir aber gleichzeitig auch, dass von hier aus nur ein Durchgang durch eine Schiebetür mit Glaseinlass tiefer ins Haus hineinführt, ungefähr dort, wo in der Bibliothek an derselben Stelle der Durchbruch vom Obergeschoß ist. Wo hier wohl die Treppe ist?



Irgendetwas ist seltsam an diesem Zimmer. Ich stampfe mit dem Fuß ein, zweimal auf. Hmm. Gehe unruhig durch den Raum, muss dabei immer wieder herumliegendem Mobiliar ausweichen. Trete erneut auf. Es klingt so, als ob der Fußboden bei weitem nicht so dick wäre, wie er sein müsste, wenn unter dem Raum einfach nur der Boden oder die entsprechende Verstärkung wäre. Was ich mich natürlich frage ist, ob es sich bei dem, was ich hier höre um den Zwischenboden handelt, der bei manchen altmodisch gebauten Häusern noch so typisch ist, oder ob sich hier der Keller ankündigt, in dem der Mann sein Nazi-Labor. Mist. Also, in dem Fouquier seine seltsamen Spielchen gemacht hat. 



Es ist mir immer noch schleierhaft, was für seltsame Tätigkeiten der Mann vollbringen soll, dass seine Dienste für jemanden wie Matthews nützlich wären, aber er scheint ein wichtiges Glied in der Kette an Personen zu sein, welche die Mädchen liefern, wenn ich davon ausgehe, dass Matthews mit seiner Escort-Agentur dafür sorgt, dass sie an die reichen Klienten geleifert werden. Das wiederum könnte bedeuten, dass Fouquier hier irgendwo eine Art Trainingsstätte oder Folterkammer eingerichtet hat, um die eingeschmuggelten Menschen einerseits unterzubringen und andererseits ihren Willen zu brechen. Bitte keine Folterkammer. Alles, bloß keine Folterkammer, ich kann sowas schon in Horrorfilmen immer nicht ab, da muss ich sowas krankes nicht auch noch im wahren Leben haben.



Für den Fall dass es sich nicht um den Keller sondern einfach nur schlechtgemachten Fußboden oder vielleicht ein Geheimfach handelt, merke ich mir diese Tatsache definitiv, wobei ich mich natürlich frage, was mich hier drinnen noch so erwartet, ich meine, der Mann scheint ja gelebt zu haben wie die Made im Speck. Da fällt mir auf, irgendwie ist die Struktur des Feuers seltsam. Die Bereiche, die eingebrochen sind, scheinen sich ziemlich zentral zu befinden und von dort aus beginnend kreisrund auszugehen, so als ob jemand ungefähr aus der Mitte des Gebäudes aus ein Feuer gelegt hat. Sollte hier versucht werden, jemanden aus dem Weg zu räumen? Meine Hand legt sich auf die Schiebetür und mit etwas Anstrengung kann ich sie beiseite rollen. Ein protziger Kamin mit Eisengatter-Schutz und einigen Sesseln und einem Sofa drumherum drapieren einen eher kärglich eingerichteten Raum der. Mir verschlägt es den Atem.



Von der Seite anfangend, über den Kamin und bis hoch unter die Decke sind an der Wand Köpfe. Nun, Tierköpfe sicherlich nur, aber ausgestopfte Tierköpfe in einer Zahl, die einen fleißigen Jäger vermutlich neidisch machen würden. Das ganze wirkt extrem unheimlich. Wobei ich auch sagen muss, wenn die Sammlung von ihm selbst zusammengetragen wurde, Respekt, das schafft auch nicht jeder alle Tage. Praktisch kein Zentimeter der gelblich wirkenden Tapete, die stückweise die Vertäfelung bedeckt, ist unbenutzt um nicht irgendwo noch ein Tierkopf auf einem hölzernen Emblem unterzubringen.



Der schwere Ohrensessel, der zentral vor dem Kamin dabei dominiert, erinnert mich ein wenig in seiner Stellung, wie da alles hier irgendwie an das DeFoe Manor, aber das scheint eher zufällig zu sein. Zentral  geht zur linken Seite eine Doppelflügelige Tür heraus, oder sie würde es, wenn nicht Teile des Obergeschosses von ihr aus durch die Tür kommen und den Weg blockieren. Auf der anderen Seite hingegen ist ein offener Durchgang, der vielleicht in sowas wie ein Raucherzimmer oder etwas ähnliches führt? Wobei, auf dem Weg zu Esszimmer sollte eigentlich hier irgendwann mal die Küche kommen, oder?



Tatsache, auf der anderen Seite geht es in die Küche. Die hellen weißen Fliesen sind mit einem leichten Rußfilter belegt, wie so vieles um mich herum, so dass ich einerseits ohne Probleme meine Schritte zurückverfolgen kann, andererseits aber auch mit jedem Meter Staub und ähnliches aufwirbele, als gäbe es kein Morgen. Immerhin, die Küche wirkt einigermaßen unversehrt, wenngleich der eigentlich Wasserzugang durch die Rohre geöffnet wurde, wobei ich mich frage, welchen Zweck das gehabt haben könnte. Durch eine breite Fensterfront auf Brusthöhe kann ich hinter den Herd und Kochflächen, Gasherd wie archaisch, den Blick auf eine kleine Wiese erkennen. Im Donnerschein erhasche ich nur kurz die Sicht, dass sich dort draußen ein Steingebäude zu befinden scheint, ungefähr auf halber Strecke von der Wiese zum Haus. Durch eine einfache Gartentür und eine kleine steinerne Treppe betrete ich den hinteren Garten und kann im stetigen Nieselregen und neben ein paar ungepflegten Büschen über harten Erdboden und ungleich wachsendem Gras beim Näherkommen entdecken, dass es sich um eine Gruft handelt. 



Besser gesagt, auf einem Friedhof wäre es eine Gruft, oder etwas, das sich durch seine Aufmachung, Steinerenes Gebäude, kleines Steinernes Dach, massiv gebaut und mit einer schweren Tür mit seltsamen Symbolen die an Tod und Verderben erinnern, für eine Gruft ausgeben könnte. Es ist nicht besonders groß, aber als ich am Außenring ziehe, bewahrheitet sich, was ich schon beim herangehen vermutete. Verschlossen. Oder blockiert. Oder ich bin ein Hänfling der eine mehrere Zentimeter-dicke Steintür nicht aufbekommt. Immerhin, durch das große überragende Dache habe ich einen wunderbaren Rückenblick auf das Haus selbst und hier noch besser als vorher offenbart sich, wie schwer die Verwüstungen gewesen sein müssen. Fast die gesamte Seite zu meiner linken, also die rechte Seite des Hauses ist eingebrochen, als ob die Tragestützen einfach weggenommen wurden, während überall die Spuren eines Feuers existieren, ohne dass es sich großartig ausgebreitet hat. Ich meine, hat man schon mal von einem geplanten...ohhh, ein Feuer, das einem genau festgelegten Weg folgen kann, natürlich geht das. Das ich da nicht schon vorher drauf gekommen bin. 



Zu dumm nur, dass ich von hier aus einen guten Blick auf den Zwischenboden von Boden und Haus habe. Entweder ist der Keller für mich blockiert weil er unter Schutt begraben ist, oder der Boden ist derart uneben, dass man tatsächlich eine Erhöhung gebaut hat und das Haus wirkt nur so uneben, wegen des fürchterlichen Untergrundes. Was wiederum bedeuten könnte, dass es keinen Keller gibt. Oder eben dass er unzugänglich ist. 



Aber irgendwo muss doch hier ein Weg zu finden sein, etwas, das darauf hindeutet, wo er seine eigentlichen Arbeiten verrichtet hat? Sollte ich Ibrahim einfach so, für nichts geopfert haben? Ich meine, bitte nicht in der Familiengruft, das wäre echt seltsam.



Im langsamen Nieselregen, der schon seit Minuten an Kraft verloren hat, zünde ich mir eine Zigarette an. Ein tiefer Zug, und die Welt sieht gleich viel besser aus. Irgendwann demnächst müsste die Sonne aufgehen. Wenn die Wolkendecke nicht wäre, natürlich. Wobei ich bei dem Wetter schon immer Angst vor einem Splittersturm hätte, aber gut, das ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen.



Erneutes Donnern. Ich stehe inmitten der Wiese und betrachte das Chaos vor mir. Endlos viele Fäden, diverse Parteien. Und ich habe das Gefühl, wie eine Maus ewig durch das Labyrinth zu rennen, nur um am Ende einen Stromstoß anstatt von Käse zu bekommen. 



Was war das?



Ich bin mir sicher, dass ich etwas gehört habe. Es klang bizarr genug, dass es in dieser Umgebung auffallen musste, also kann es nur etwas von menschlicher Quelle sein. Eine Stimme?



Da!



Schonwieder. Ein Aufkeuchen. Subtil, erschöpfend, genau am Rande der Wahrnehmung. Es muss von irgendwo hier kommen. Ich bücke mich, kreuche über den Fußboden. Selbst bei dieser Nässe muss jeder Zentimeter untersucht werden, wenn ich den Ursprung finden will. Ich habe eine Vermutung, vielleicht sogar eine Ahnung, aber ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher. Als ich die Sträucher am Rande der Wiese, einige Meter weiter erreiche, wird es zur Gewissheit. 



Ein Heizungsrohr, ungefähr Fingerdick, inmitten der Sträucher verborgen, das aus dem Erdreich herausguckt.



Der Mistkerl hat alles unter dem Anwesen direkt verborgen. Moment. Irgendetwas knarzt laut. Vorsichtig krieche ich näher an den Busch und verberge mich, alle Sinne auf die Umgebung gerichtet.

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